Emanzipation und Fundamentalismus

Was man sonst Gewohnheit nennt oder Tradition, das nennt man in Bezug auf Gemeinschaften, die nicht durch natürliche Verhältnisse definiert sind, Kultur. Die Teilhabe an der Kultur heißt Bildung. Kultur ist different. Alles was Menschen überall auf der Welt in gleicher Weise vollziehen gehört nicht zu ihrer Kultur. Technik und Wissenschaft sind kein Teil der Kultur. Im Gegenteil. Wer den arbeitsfreien Sonntag wegen längerer Maschinenlaufzeiten abschafft, verändert nicht die Kultur eines Landes. Er schafft sie ab. Nur und soweit Wertungsweisen Land jenseits der ökonomisch-technischen Notwendigkeit statt haben, spricht man davon, dass deren Gesellschaft Kultur hat.
Das abendländische Konzept der Emanzipation war nie etwas anderes als der ideologisch vorweggenommene Vollzug der ökonomisch-technischen Notwendigkeiten. In unserer jüngsten Geschichte war der Kampf gegen den tausendjährigen Muff unter den Talaren, nur das Vorspiel, dass aus unseren Universitäten Zuliefererbetriebe für die Wirtschaft machte. Die sexuelle Befreiung zerschlug die Familie, in der tatsächlich einer öfter als zweimal mit derselben pennte. Der Kampf gegen die Religion, die all die kulturellen Überhöhungen und Sinnstiftungen leistet, war die Voraussetzung für die emanzipatorische Naturalisierung des Menschen. Ficken war jetzt eben Ficken, geheiratet werden musste da nicht mehr. Gestorben wird sowieso. Letzte Ölungen sind da überflüssig. Die jahrtausendelangen Bemühungen dem bloß Kreatürlichen Glanz und Würde zu verleihen wurden weggefegt. Heraus kam als Resultat all dieser Bemühungen der allseits beliebte Verfügbarkeitsmensch: flexibel, mobil, teamfähig, ungebunden, karrieregeil und geldgierig. Der Verlust an Kultur und Identität, wenn er denn überhaupt noch wahrgenommen wurde, wurde durch das große Versprechen auf Wohlstand, wenn nicht Reichtum kompensiert. Immer wenn dieses Versprechen nicht (rechtzeitig) eingelöst wird erscheint der kleine hässliche Bruder der großen blonden Schwester Emanzipation, der Fundamentalismus. Aus der emanzipatorischen Forderung nach Geltung der universalen Rechte für jeden Einzelnen, wird die Forderung nach besonderen Rechten für besondere Gruppen. Der Schritt ist klein. Die Quotenregelung in Deutschland gehört dazu. Schon in den sechziger Jahren versuchte der Fundamentalismus als Nation of Islam den emanzipatorischen Ansatz der Civil-Right-Movement der USA in sein Gegenteil zu verkehren. Aber dass Black beautiful ist, gilt nun mal nicht für die Industrie. Der Kapitalismus hat überhaupt wenig Sinn für die fundamentalistischen Schreie nach Identität. Auch nicht für Arabische, deren trotziger Versuch ihre westlich orientierte Führer durch Fundamentalisten zu ersetzen, von der dunklen Ahnung getrieben wird, dass ihnen nach dem Sieg des Kapitalismus Nichts bleiben wird. Nichts jedenfalls, dass sie noch von anderen unterschiede.
Und manche Bewegung, die als emanzipatorische begonnen hatte und die -wie das Christentum- nur Hohn und Spott über die Naturfrömmigkeit der damaligen Zeitgenossen ergoss, ließ von deren heiligen Hainen und Tempeln nur Hölzer und Steine übrig, wie noch der deutsche Idealismus klagte. Und mit jedem weiteren Schritt über den Katholizismus hinaus haben sich die Menschen ein Stück mehr aus der Welt in eine abstrakte Innerlichkeit vertrieben, der sie jetzt als Authentizität -ihrem neuen Jenseits- fronen, das ohne Gnade und Vergebung doch immer nur verfehlt werden kann.
Identität oder Emanzipation lautet die Frage. Der Weise Nathan hat sie beantwortet, als Ihn der aufgeklärte Saladin fragte: Ein Mann, wie du, bleibt da
nicht stehen, wo der Zufall der Geburt Ihn hingeworfen. Nathan blieb.
Anders seine Glaubensgenossen im 19. Jahrhundert, die massenweise zum christlichen Glauben konvertierten. Ein Akt der Emanzipation, der mit der zionistischen Bewegung sofort seinen fundamentalistischen Widerpart auf den Plan rief. Entgegen der plakatierten nationalsozialistischen Propaganda war es nicht der bornierte, sondern der emanzipierte Jude, der als Symbol jeglicher Modernität herhalten musste und dessen Schicksal man der eigenen Rasse ersparen wollte, indem man es an den Juden verfolgte. Ihnen wurde die Identität eintätowiert, deren Verlust man für sich selbst befürchtete.
Der Westen, der nicht mehr christliches Abendland sein will, versucht sich auf die Rolle des Moderators im Kampf der Kulturen zu beschränken. Er ist schon lange nicht mehr Partei. Zum Entsetzen der Bevölkerung beschränkt er sich auf die Verteidigung seiner Moderatorenrolle, die keine anderen Werte mehr braucht als Unparteilichkeit, Verfahrenstreue, Toleranz und ein bisschen Zynismus.