Beim Denken erwischt

Rechtspopulismus in Europa
Gefahr für die Demokratie?
Ernst Hillebrand (Hg.)
Dietz Verlag, 2015, S.189
16,90 Euro

Das hatte man lange nicht mehr. Linke, die sich außerhalb des Gänsemarsches ihrer ewig gleichen Phrasen zu so etwas wie einer kritischen Revision der eigenen Ressentiments aufschwingen. So geschehen in dem wunderbaren Buch „Rechtspopulismus“, das von Ernst Hillebrand herausgegeben und mit einem bemerkenswert klugen Nachwort versehen wurde:  „Die permanente Delegitimierung von Sorgen, Emotionen und Wahrnehmungen gerade der kleinen Leute hat eine Art »habituelle Entfremdung« zwischen ihnen und der Sozialdemokratie geschaffen. Diese Menschen haben zunehmend das Gefühl, dass die Parteien der linken Mitte sie nicht mögen, sie nicht respektieren und für ihre Werte nichts übrig haben.“ Um diese Menschen zurückzugewinnen“, so das Fazit des Buches müssen sie „wieder Gewissheit darüber erhalten, wo die tatsächlichen Loyalitäten der linken Mitte liegen – bei ihnen oder bei anderen sozialen Gruppen, bei den Arbeitnehmern oder bei »der Wirtschaft«, bei den Interessen ihres Landes oder bei denen »Europas«.
In zehn Kapiteln werden die rechtspopulistischen Parteien Europas überwiegend von Autoren des jeweiligen Landes in klarer und gut lesbarer Form vorgestellt, ohne dabei die üblichen pawlowschen Reflexe unserer öffentlichen Fernseh- und Rundfunkanstalten zu bedienen. Auch die Kapitel, die sich an einer politischen Bewertung dieser gesamteuropäischen Bewegung versuchen und nach möglichen Gegenstrategien fragen, kommen ohne die Hypermoral öffentlich-rechtlich-gestrandeter Studienabbrecher aus.

Die linke Verlegenheit, die der Herausgeber angesichts des Erfolges rechter Bewegungen eingesteht, ist allerdings um einiges älter als vermutet. Das Fazit, das Ernst Bloch schon 1935 aus der Beobachtung politischer Kundgebungen der Weimarer Republik zog: ‚dass Faschisten zwar betrügend, aber zu Menschen sprechen, die Linken völlig wahr, aber nur von Sachen’, ähnelt jedenfalls sehr dem Hildebrands, auch wenn der sich von „einem cartesianischen  Diskurs, der die Überlegenheit von Sachpolitiken beschreibt“ keine Abwehr mehr gegen die von ihm als legitim angesehenen „emotionalen Urteile“ in der Politik verspricht.
Aber es geht damals wie heute nicht nur um den Gegensatz von Gefühl und Rationalität. Der ist im Politischen ohnehin nur das Resultat der Gnadenlosigkeit mit der besonders die deutsche Linke die Handlungsrationalität der bürgerlichen Gesellschaft zum alleinigen Ideal aller Handlungsfelder der Menschen zu verklären sucht. Nun sind aber die Regeln für das Handeln in Familien völlig andere als die in der bürgerlichen Gesellschaft, und die wiederum sollten sich wesentlich von Handlungsmaximen in staatlichen Institutionen unterscheiden. In Familien geht es eben nicht um Selbstverwirklichung, Mobilität und Flexibilität wie in der bürgerlichen Gesellschaft, sondern um Beständigkeit, Geborgenheit und Gemeinschaftlichkeit. Die völlig blöde Idee der 68er Familie und Staat mal eben dem Stresstest von Handlungsmaximen der bürgerlichen Gesellschaft zu unterziehen, war eben auch nur das: blöd. Mit allerdings ziemlich verheerenden Konsequenzen. Denn ohne die kecke Erkenntnis, dass unter den Talaren der Muff von hundert Jahren steck, hätte man aus der alten Humboldt-Universität nicht so ohne weiteres drittmitteleinwerbende Zuliefererbetriebe der Industrie machen können. Und das da einer trotz Flexibilität und Mobilität zweimal mit derselben pennt, das soll in Familien ja tatsächlich schon vorgekommen sein.

Aber nicht nur die Familie, auch der Staat wird als zu eng und viel zu rigid empfunden. Und so flüchtet sich denn die Suche nach supranationaler Identität einer schon längst nicht mehr deutsch sein wollenden Linken in die Begeisterung für alle Arten von Entgrenzung und jeder Form von Globalisierung, die einen mit Ernst Bloch fürchten lassen, dass sie „irgendwann einen Großkapitalismus von terrestrischer Ausdehnung schon für die sozialistische Gesellschaft halten.“

Das komplette Bild dieser Republik erhält man denn auch nur, wenn man der vom ‚Abstieg bedrohten oberen Mittelschicht’, die leider auch in diesem Buch des öfteren  beschworen wird, die am ‚Aufstieg gehinderte untere Mittelschicht’ an die Seite stellt.

Denn der soziale Aufstieg, der sich schon längst nicht mehr in höherem Einkommen und anerkanntem sozialen Status wiederspiegelt, manifestiert sich nur noch in der für links gehaltenen Fähigkeit die „Angst, nirgendwo hinzugehören, umzuwandeln, in den Stolz, für alles Neue zu stehen“ (H. Bude). Und so beglückt uns der/die linke AufstiegsphilisterIn tagtäglich neu mit den bürgerlichen Segnungen des Monte Verita: mit Yoga und Reformkost (vegetarisch oder vegan), mit Tanz und Therapie, Wellness und Globoli, während die Schallmaien der alten Arbeiterbewegung längst ungehört verklungen sind. Linke, die einmal die Gesellschaft verändern wollten, sind mittlerweile völlig ausgelastet damit, ihre Ernährung umzustellen. Und potentielle Lichtesser haben naturgemäß wenig Verständnis für die Sorgen von Pegidademonstranten.
Es wird wohl auch auf längere Sicht kaum eine Verständigung geben zwischen Leuten, die ihrer Herkunft ständig zu entkommen suchen, und denen, die sie bewahren wollen.